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Auf Entzug

Wir kennen die Geschichten von älteren Fußballfans, die von früher erzählen und wie sich über die Jahre die Begeisterung für den Fußball oder sogar das Verhältnis zu seinem eigenen Verein verändert hat – ja sogar eine gewisse Distanz zu dem ganzen Treiben entstanden ist. Zu denen gehöre auch ich. Wer mir auf Twitter folgt, der dürfte das schon gemerkt haben.

Es erstaunt mich aber immer noch, dass es so gekommen ist. Gestern (9. Juni 2020) wurde eine absolute VfB Legende 58 Jahre alt: Günther Schäfer. Schäfer gehörte für mich zu der Generation von Spielern, mit denen ich aufgewachsen bin und zu denen ich von der Cannstatter Kurve aus aufgeblickt habe. Für mich Helden. Wie Karl, Asgeir, Guido, Jürgen, Fritz und viele andere, die für mich mit Stolz den Brustring trugen. Der VfB teilte einen Hinweis zum Geburtstag nur über seinen internationalen VfB Account, was schon sehr schade ist, da solche Vereinslegenden mehr Aufmerksamkeit verdient haben. Über viele Jahre waren sie dem VfB treu, etwas, was heutige jungen Fans überhaupt nicht mehr kennen. Ein Spieler, der länger als zwei bis drei Jahre bei einem Verein bleibt? Ein Wappen wurde damals nicht geküsst, das war auch überhaupt nicht notwendig, weil man wusste, dass Allgöwer, Buchwald oder Schäfer trotzdem eine wirkliche Verbindung zum VfB hatten. Als die Verträge von Hartmann und Schäfer auf einmal nicht mehr verlängert wurden – das war für mich als Fan ganz schwer zu ertragen. Schäfer bei einem anderen Verein. Im falschen Trikot. Das war nur sehr schwer zu ertragen.

„Das hat sich halt verändert, das gibt es heute nicht mehr“. Das stimmt. Leider. Vielleicht auch ein Grund, dass wir einen VfB haben, wie wir ihn in dieser Saison sehen. Emotionslos, mit dem kleinsten Erfolg zufrieden. Die Spieler haben alle das Wissen, dass sie schnell irgendwo anders unterkommen, neue Verträge bekommen und sich das Rad weiterdreht. Wieso sollte man da mehr als notwendig tun. Die Spieler so auswechselbar wie noch nie – für mich. Wenn ich Bilder vom Training sehe, dann muss ich oft schon genau hinschauen und mir überlegen – wer ist das denn? Im Hinterkopf der Gedanke „muss man sich eh nicht merken, ist in einem Jahr eh wieder weg“. Aber wenn einer schreibt „mein erstes Spiel war 92 gegen den KSC“, dann weiß ich noch, der Torschütze war Fritz Walter. Meistersaison. Unvergessen. Wie Schäfer mit seiner Fallrückzieher-Rettungsaktion am letzten Spieltag gegen Leverkusen. Aber hatten wir ja schon, dass er eine Legende ist.

Viel wechselndes Personal? Misserfolg? Wolfgang Dietrich? Ausgliederung? Es gibt vermutlich eine Vielzahl kleiner Faktoren in den letzten Jahren beim VfB, die für mich dazu beigetragen haben, dass mich dieser Zirkus weniger interessiert, wie noch vor vielen Jahren. Da wäre es undenkbar gewesen während Spielen meines heißgeliebten VfB spazieren zu gehen, den Keller aufzuräumen und einfach nur das Endergebnis zu checken. Eine Niederlage gegen Wiesbaden oder Kiel wird mit einem Schulterzucken belegt. Das war es. Früher wurde da noch gegen Türen getreten. Früher war mehr Emotion. Zugegeben, die Umstände haben sich auch verändert, eine Familie mit zwei Kindern steht nun auch einfach mehr im Fokus und hat Vorrang vor dem Fußball. Falls jemand auf die Idee kommt, es wäre der ausbleibende Erfolg. Entschuldigung, ich bin VfB Fan seit Mitte der Achtziger, da gab es schon immer wieder schlechte Phasen. Kein Abstieg natürlich, das ist richtig. Selbst die Saison 2016/2017 war mit mehr Emotionen belegt. Auch da war der Fußball nicht schön, aber das Gefühl es könnte da etwas entstehen, ein bisschen Euphorie. Bis ja, ihr wisst schon Dietrich, Ausgliederung, alles zigfach erzählt. Für mich aber bestimmt ein Wendepunkt. Nein, nicht einmal die Ausgliederung selbst, sondern die Art und Weise. Der tiefe Graben, der bis heute noch besteht und den vielleicht Claus Vogt irgendwie wieder zuschütten kann. Unser neuer Präsident ist im übrigen einer der wenigen positiven Veränderungen – vielleicht wird mit ihm der VfB auch wieder mehr mein VfB und nicht der VfB.

Eine Parallelwelt, die finanziell komplett abgehoben ist? Millionenablösen? Leben auf Pump ohne wirtschaftliche Vernunft? Geisterspiele ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Spieler? Plastikvereine für die keine Regeln gelten? Ein nicht durchdachter VAR? Immer wieder neue Punkte, die mich abseits des VfB zum grübeln brachten. Nochmal eine Dauerkarte? Immer wieder kam der Junkie in mir wieder durch und ich brauchte dann doch den neuen Schuss, obwohl ich mir zum Ende der Saison geschworen hatte, nicht mehr zu verlängern. In der Coronapause habe ich mir dann auch gesagt, nein, Geisterspiele tue ich mir nicht an. Wie viele anderen auch. Dass nun doch viele schauen, entgegen der Beteuerungen auch ausgiebig darüber berichten, sprechen usw. – absolut okay. Das muss jede*r für sich selbst wissen und entscheiden. Wer schauen will, soll das tun. Wer nicht schauen will, muss nicht. Wichtig ist nur, dass gegenseitig die Entscheidung akzeptiert wird.

Und wie soll es mit uns weitergehen? Fußball und VfB. Ich weiß es noch nicht. Natürlich würde ich mich über den Aufstieg freuen – auch wenn er so überhaupt nicht verdient wäre. Werde ich wieder Spiele schauen? Mit Sicherheit irgendwann. Und auch wieder ins Stadion gehen? Natürlich auch irgendwann einmal wieder. Die Atmosphäre, die Bekannten, die Freunde, die man trifft. Das Last-Minute-Tor live erleben. Unbezahlbar. Aber für mich wird es nie wieder so werden wie damals im weiten Rund im Neckarstadion oder wie in den Neunzigern mit dem magischen Dreieck. Das ist auch nicht schlimm, der Fußball hat sich verändert und ich habe mich auch verändert. Ganz komme ich einfach davon nicht los, weit über 35 Jahre Junkie gehen nicht spurlos an einem vorbei. Es ist kein harter Entzug, ich habe aber die Dosis reduziert und das fühlt sich ziemlich gut an.